Nach Jahrzehnten im Dornröschenschlaf ist der Traum des Menschen von Reisen zum Mars und der Abenteuersuche in entfernten Galaxien durch superreiche Visionäre wie den SpaceX-Gründer Elon Musk oder den Amazon-Milliardär Jeff Bezos wieder erwacht. Nicht nur Science-Fiction-Fans wie mir wird dieser neue Pioniergeist aufgefallen sein. Wir scheinen mehr denn je in einer Alles-ist-Möglich- Zeit zu leben. Das zeigt sich nicht nur an den Geldern, die in die Weltraumforschung fließen, sondern auch
daran, wieviel Energie und Geld
überall auf der Welt in die Erforschung der künstlichen Intelligenz (KI) investiert werden.
Viele Systeme der künstlichen Intelligenz, wie das sogenannte „Deep Learning“, also Computersysteme, deren Algorithmen in immer kürzerer Zeit gigantische Datenmengen auslesen, vergleichen, nach Mustern durchsuchen und Lösungen vorschlagen – sind in der sogenannten „schwachen“ Form schon längst in unserem Alltag angekommen und bewirken viel Gutes. KI-Systeme der Bilderkennung durchforsten medizinische Datenbanken und helfen bei der Krebsfrühdiagnostik; Spracherkennungssoftware übersetzt Fremdsprachen in perfekten Fließtext.
Besonders gut zeigt das Thema KI aber auch, dass technischer Fortschritt polarisiert. Sogar der bereits erwähnte Elon Musk äußerte sich einmal kritisch und fürchtet die Erschaffung eines „untötbaren digitalen Diktators“. Gemeint ist bei diesen Warnungen eine bestimmte Form, die sogenannte „starke KI“ oder auch „Superintelligenz“, die anders als die „schwache KI“ nicht auf konkrete, klar definierte Einsatzgebiete beschränkt wäre. Es geht also nicht nur um Computer, die stur einprogrammierte Algorithmen abfahren, sondern um Systeme, die sich autonom Neues beibringen, quasi den eigenen Algorithmus selbsttätig erweitern und kreativ denken, so wie der Mensch. Noch ist das nicht möglich, und selbst die theoretische Frage, ob es jemals dazu kommen könnte, spaltet die Fachwelt. Aber was, wenn doch? Die Angst mancher Menschen lautet schlicht: Die Maschinen könnten selbstständig werden. Das Geschöpf könnte sich gegen den Schöpfer auflehnen. Eine Idee, die sehr an Genesis 3 erinnert. Ein „Sündenfall der KI“, sozusagen.
Neueste Technik, uralte Fragen
Die Frage nach der technischen Machbarkeit einer solchen Superintelligenz ist das eine. Das andere ist die enorme Fülle an weiteren Fragen, auf die uns die technische Entwicklung aufmerksam macht. Kann ein Computer ein Selbstbewusstsein entwickeln? Wie genau funktioniert das menschliche Denken, das wir zu kopieren versuchen? Wie entscheiden wir, welche Lösungsvorschläge der KI gut oder schlecht sind? Um das einmal ganz konkret zu machen: Für welches Manöver soll sich ein autonomes Fahrzeug entscheiden, dessen Bremssystem kurz vor einem Fußgängerüberweg ausfällt? Ausweichen und die Insassen gefährden oder weiterfahren, obwohl eine Frau mit kleinem Kind gerade die Straße überquert? Wer soll überleben?
Mir fällt es vor diesem Hintergrund schwer, einfach nur von Fortschritt zu sprechen, denn mit solchen technischen Entwicklungen ergeben sich weitreichende neue Probleme, die nicht allein auf technischem Wege zu lösen sind. Wir werden vor zahlreiche moralische und weltanschauliche Fragen gestellt, die sehr klar auf eine gemeinsame Grundfrage hinauslaufen: Was ist der Mensch? Unsere Antwort auf diese Frage, so meine Überzeugung, wird in den nächsten Jahrzehnten in unserer Gesellschaft von entscheidender Bedeutung sein – nicht nur, aber auch in Bezug auf neue technische Entwicklungen. Wie wir die Natur des Menschen beschreiben, wirkt sich schließlich auch auf unsere Begründung der Menschenwürde aus und auf die weitergehenden Fragen nach dem Schutz des Lebens, gerade zu (oder vor!) Beginn des Lebens und zum Lebensende hin. Was unterscheidet den Menschen von einer hochintelligenten Maschine? Ist ein Mensch rein materiell abbildbar (und somit ersetzbar!) oder wohnt jeder einzelnen Person ein höherer individueller Wert inne? Und wie wäre dieser Wert zu begründen?
Der Versuch, eine starke KI zu entwickeln, wirft nicht nur moralische Fragen auf; ihre Erschaffung hätte auch weitreichende Auswirkungen auf das Verständnis des Menschseins und der Realität im Allgemeinen. Wie können – und wie wollen – wir mit diesen Fragen
umgehen?
Der Physiker John Polkinghorne sieht folgende Alternativen: „Wenn wir die Realität verstehen wollen, haben wir nur zwei mögliche Ausgangspunkte, entweder die rohe Tatsache der physischen Welt oder die rohe Tatsache eines göttlichen Willens und Zwecks hinter dieser physischen Welt.“
Der Historiker Yuval Harari zeichnet das Bild der ersten Alternative in seinem Bestseller „Homo Deus. A Brief History of Tomorrow“ (dt. „Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen“). Er sieht den Menschen rein materialistisch, also „von unten her“ (immanent) definiert und sieht den technischen Fortschritt als logischen nächsten Schritt der menschlichen Evolution: „Nachdem wir die Menschheit aus der tierischen Ebene der Überlebenskämpfe erhoben haben, wollen wir nun die Menschen zu Göttern upgraden und den Homo sapiens zum Homo deus machen.“
Die Utopie (oder Dystopie?) mancher Denkerinnen und Denker sieht im Fortschritt des Menschen den sogenannten Transhumanismus: Der Mensch überwindet seine biologischen Beschränkungen mithilfe der Technologie. Seine Seele, die nur ein Zustand materieller Dynamiken ist, ließe sich schließlich digital abbilden und in einen unzerstörbaren Datenspeicher (Cloud) uploaden.
Aus meiner Sicht würde das nicht zu menschlichem Fortschritt, sondern letztlich zu Entmenschlichung führen, weil zum Menschsein mehr gehört als nur das materiell Abbildbare. Um das Leben in seiner Ganzheitlichkeit zu erfahren, ist auch unser biologischer Körper ein wichtiges Element – Leib und Seele gehören zusammen.
Aber ein spannender Aspekt bleibt zu bemerken: Der Mensch sehnt sich nach Unsterblichkeit und Superintelligenz. Ist das womöglich eine modern formulierte Suche
nach Gott?
Harari sieht in diesem Kontext ebenfalls wichtige unbeantwortete Fragen: „Sind Organismen wirklich nur Algorithmen und ist das Leben wirklich nur Datenverarbeitung? Was ist wertvoller: Intelligenz oder Bewusstsein? Was wird mit Gesellschaft, Politik und Alltag passieren, wenn unbewusste, aber hochintelligente Algorithmen uns besser kennen als wir selbst?“
Die rein materielle Beschreibung des Menschen kann nicht alle aufgeworfenen Fragen beantworten und sie wird dem Menschsein nicht gerecht. Sie muss Themen wie Seele, Wahrheit, Gutsein oder Schönheit ausklammern, weil diese für unser Leben so entscheidenden Aspekte nicht naturwissenschaftlich greifbar sind. „Die Frage, ob und wie sich der Mensch von der KI unterscheidet, ist keine empirische, sondern eine philosophische“ – bzw. noch präziser: Sie ist in erster Linie nicht empirisch, sondern philosophisch.
Mich fasziniert es, dass wir beim Versuch, den Menschen um des technischen Fortschritts willen materialistisch abzubilden, auf ein großes Rätsel stoßen. Oder besser gesagt: auf ein Geheimnis. Ein Rätsel wäre etwas, das wir doch früher oder später mit genug Nachdenken und Anstrengung lösen könnten. Im Gegensatz dazu handelt es sich bei der Frage „Was ist der Mensch?“ um ein Geheimnis. Ein Geheimnis kann ich nicht selbst ergründen, ein anderer muss dieses Geheimnis mit mir teilen. Derjenige, der das Geheimnis hütet. Die Superintelligenz hinter meinem Leben. Gott muss sich uns mitteilen, oder theologisch ausgedrückt: sich uns offenbaren.
Damit sind wir bei der zweiten Option, die von Polkinghorne beschrieben wird: Das menschliche Leben ist im göttlichen Willen und Zweck gegründet. Dass es einen intelligenten Geist hinter meinem Leben geben muss, darauf weist mich die Forschung rund um KI selbst hin. In einer Welt des Ursache-Wirkungs-Zusammenhangs (des Kausalprinzips) sehe ich selbst schwache KI-Systeme nicht „aus sich selbst heraus“ entstehen. Die Wirkung (die Maschine) kann die Ursache (den Erfinder) niemals „wesensmäßig überflügeln“. Der Mensch mit seiner Intelligenz erschafft zielgerichtet die KI. Intelligenz kommt von Intelligenz. Jede Bewegung hat ihren Beweger, der Mensch hat einen Schöpfer.
Durch die christliche Brille betrachtet
Welches Licht wirft also der christliche Glaube auf die Fragen, die der technische Fortschritt stellt? Zuallererst einmal dies:
Das tiefe Vertrauen in Gottes Souveränität darf größer sein als die Angst vor drohenden Entwicklungen. Gott bleibt Gott, der Schöpfer, die Ursache, der Grund von allem. Angemessen bleibt aber ein im biblischen Weltbild verorteter Realismus. Soll heißen: Uns muss wie bei jeder technischen Anwendung klar sein, dass fehlerhafte Menschen sie zum Schaden für andere verwenden können und wohl auch werden.
Dadurch gelangen wir zur Frage nach moralischen Entscheidungen. Zahlreiche Anwendungsfälle, wie etwa das außer Kontrolle geratene autonome Fahrzeug, erfordern moralische Urteile. Wir Menschen – und das stellt eine große Hürde in der naturwissenschaftlichen Beschreibung des Menschen dar – haben ein Bewusstsein. Zu Bewusstsein gehören Reflexionsfähigkeit, Gewissen und moralisches Denken. Dazu benötigt der Mensch ein Wertesystem, das die Kategorien Gut und Böse (oder Richtig und Falsch) definiert. Die moderne Forschung ringt um solche allgemein gültigen (absoluten) Definitionen, die allen Menschen und Situationen gerecht werden. Die dahinterliegenden Fragen sind fundamental: „Was ist der einzelne Mensch wert?“, „Wer trägt Verantwortung (also Schuld)?“ und was ist letztlich eine „gute“, was eine „schlechte“ Entscheidung? Gott, der absolute Maßstab des Guten, bietet in diesen Fragen Orientierung, die wir so dringend brauchen. Um zum Beispiel die Frage nach Gut und Böse beantworten zu können, müssen wir der Frage nach Sinn und Ziel des menschlichen Lebens nachgehen. Wenn dies klar ist, weiß ich, was mich im Sinne von Fortschritt näher an dieses Ziel führt, welche Entscheidungen demnach gut oder schlecht sind und welche Bedeutung der einzelne Mensch unter bald acht Milliarden anderen hat.
Aus christlicher Sicht ist die kurze, in ihrer Bedeutung aber niemals völlig auszuschöpfende Antwort auf die Frage nach dem Menschsein: Der Mensch ist „erschaffen im Ebenbild Gottes“. Jeder Mensch reflektiert etwas von Gottes Charakter in diese Welt und ist seinem Schöpfer ähnlich. Darum ist die Würde jedes individuellen Menschen unantastbar.
Daraus kann ich ableiten, dass ich bei keiner moralischen Entscheidung das eine Menschenleben in einem beispielsweise utilitaristischen Sinne gegen ein anderes aufwiegen darf. Es müssen also kreative alternative Lösungswege gefunden werden, wenn wir vor derartige moralische Dilemmata gestellt werden.
Die Schöpfung und die Menschen als Teil davon sind von Gott bejaht – und das in ihrer Ganzheitlichkeit. Wir sind nicht in einem griechisch-philosophischen Sinne ein Körper mit einer Seele, die auf die Befreiung aus dem sterblichen Käfig wartet, wie es bei den Hoffnungen des Transhumanismus widerhallt. Wir sind Seele und Körper und beides wird durch Jesus Christus erlöst werden.
Das wäre dann der Fortschritt im tiefsten Sinne: Fortschritt der Welt als Erlösung jedes einzelnen Menschen hin zu einer immer klarer scheinenden Ebenbildlichkeit Gottes, also ein fortschreitendes Verwandeltwerden „in dasselbe Bild von Herrlichkeit zu Herrlichkeit“.
Gut ist dann alles, was einem Menschen hilft, in der Liebe und Erkenntnis Gottes zu wachsen – also wirklich Mensch zu werden. Menschsein im Sinne der Ebenbildlichkeit heißt dann: ein Mensch, der Gutes tut, weil Gott gut ist. Der kreativ tätig ist, weil Gott ein kreativer Schöpfer ist. Der Liebe übt, weil Gott die Liebe ist. Der den eigenen Wert kennt und den des anderen, weil dieser Wert unantastbar von Gott her definiert und begründet ist.
Dieses Menschenbild in den gesellschaftlichen Dialog einzubringen, ist unsere Aufgabe als Christinnen und Christen. Lassen wir uns nicht mittreiben in eine materialistisch verengte Definition der menschlichen Identität, sondern zeigen wir die Weite, Fülle und den Reichtum der menschlichen Würde auf, indem wir atemberaubende Schönheit, befreiende Wahrheit, bedingungslose Liebe, schöpferische Kreativität, lebensspendende Vergebung und das zwischenmenschliche Mit- und Füreinander, gerade auch in den Grenzerfahrungen des Lebens, fördern und feiern. Wenn uns die künstliche Intelligenz dabei eine Hilfe ist – umso besser! Viel abenteuerreicher und lohnender bleibt aber bei allem die Suche nach der wahren Superintelligenz: unserem wohlwollenden persönlichen Erfinder.