Vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich. Diskriminierung aufgrund der Ethnie ist verboten. Heißt das: Rassismus gibt es nicht mehr?
Leider stimmt das nicht. Nach wie vor werden in Deutschland und weltweit Menschen aufgrund von Herkunft, Ethnie, Aussehen, Nachname, Akzent und Ähnlichem anders behandelt. Auch wenn Rassismus per Gesetz verboten ist, existieren in unseren Köpfen weiterhin rassistische Vorurteile, die oft (öfter, als viele denken!) im Alltag in Form von Diskriminierung sichtbar werden.
Wenn du sagst, Rassismus werde „in Form von Diskriminierung“ sichtbar – gibt es noch andere Formen, wie sich Rassismus zeigt?
Wir assoziieren den Begriff „Rassismus“ meist mit Extremismus und Gewalt. Wir denken an Neonazis und Holocaust. Aber Rassismus hat auch weniger offensive, „unscheinbarere“ Formen, die Betroffene aber dennoch belasten. Manchmal versteckt er sich sogar in Aussagen, die eigentlich gut gemeint sind. Hierbei ist wichtig, sich bewusst zu machen, dass die gute Intention hinter einer Handlung nicht garantiert, dass sie beim Gegenüber auch gut ankommt. Eine Aussage wie „Ihr Afrikaner habt echt alle Rhythmus im Blut“ ist zwar nett gemeint, aber fällt wegen der Verallgemeinerung einer kompletten Ethnizität und der Zuschreibung bestimmter Attribute aufgrund von Abstammung trotzdem unter die Kategorie Rassismus. Für die adressierte Person sind solche Aussagen einfach nur unangenehm. Wir möchten weder auf unsere Ethnizität und Wurzeln reduziert werden, noch möchten wir als stell-vertretend für diese betrachtet wer-den, sondern einfach als Einzelperson mit individuellen Eigenschaften und Charakterzügen.
Rassismus prägt das Bild, das People of Colour von sich selbst haben. Was geht in einem Menschen vor sich, der in seinem Alltag Rassismus erlebt?
Es gab vor allem in meiner Jugend Zeiten, in denen ich gerne mein Aus-sehen ändern wollte. Ich habe meine Afrohaare gehasst und habe sie mir deshalb jahrelang geglättet. Genau wie meine Nase, die ich von meinem angolanischen Vater geerbt habe. Und meinen Körperbau – so klischeehaft wie in alten Karikaturen schwarzer Menschen mit Hohlkreuz und herausstehendem Po. Ich mochte es nicht, ich zu sein, weil ich sehr häufig vor Augen geführt bekommen habe, dass ich anders bin. Dass ich anders aussehe. Dass ich komisch aussehe. Dass ich mit meinem Aussehen irgendwie keine Deutsche sein kann. Ich wollte dazugehören, in der Menge untergehen und als Deutsche wahrgenommen wer-den. Denn das bin ich schließlich. Rassismus kann also das Selbstbewusstsein einer betroffenen Person komplett zerstören. Es kann zu Unsicherheiten oder sogar Selbst-hass führen. Bei Personen, die von Rassismus und Diskriminierung in der Schul- und Arbeitswelt betroffen sind, kann es außerdem dazu kommen, dass sie jegliche Motivation verlieren, sich Mühe zu geben, weil sie merken, dass sie anhand ihres Aussehens, Namens oder Ähnlichem bewertet werden und nicht anhand ihrer Leistung. Auch solche Erfahrungen können das Selbstwertgefühl angreifen. Ganz allgemein lässt sich sagen: Rassismus zu erleben frustriert einfach enorm.
Bedeutet das, dass ein Verhalten nicht erst dann rassistisch ist, wenn jemand aufgrund der Herkunft schlechter behandelt wird, sondern bereits dann, wenn er überhaupt als „anders“ wahrgenommen wird?
Nicht unbedingt. Aber Rassismus beginnt da, wo eine Person etwa aufgrund ihres Aussehens nicht als deutsch gesehen wird. Eine Bekannte von mir, die ebenfalls afrodeutsch und schwarz ist, ist als Moderatorin tätig. Sie moderiert unter anderem eine Talkshow im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gemeinsam mit drei Co-Hosts, von denen zwei ebenfalls People of Color sind. Auf Twitter hat jemand einen Ausschnitt der Sendung so kommentiert: „Als Deutscher fühle ich mich nicht von dem Format vertreten.“ Was ist an dieser Aussage rassistisch? Weil die drei Moderierenden nicht weiß sind, hat die twitternde Person sie indirekt als „nicht deutsch“ definiert, obwohl alle drei Deutsche sind und sich auch kulturell als solche identifizieren. Einer weißen Person mit französischen Wurzeln würde das wahrscheinlich nicht passieren. Es bezieht sich also auf den sichtbaren ethnischen Hintergrund und deshalb: Ja, hier versteckt sich bereits Rassismus.
Rassismus zu erleben prägt das Selbstbild. Prägen solche Erfahrungen auch das Bild oder das Verhalten, das man gegenüber anderen Menschen hat?
Unter nichtweißen Menschen bewirkt das Von-Rassismus-Betroffensein eine Art Solidarität, weil wir halt ir-gendwie alle im selben Boot sitzen. Bezüglich weißer Menschen: Durch Rassismuserfahrungen kann es dazu kommen, dass betroffene Personen weißen Menschen aus Prinzip mit Misstrauen begegnen. Ich ertappe mich manchmal dabei, dass ich Momente wie etwa einen skeptischen Blick einer alten Dame, die mir im Supermarktgang entgegenkommt, oder den Busfahrer, der mein Ticket ganz genau unter die Lupe nimmt, Rassismus zuschreibe. Ob das in der jeweiligen Situation jedes einzelne Mal der Fall ist, weiß ich nicht. Aber so beeinflussen eben Erfahrungen, die ich in der Vergangenheit gemacht habe, wie ich das Verhalten anderer (weißer) Menschen mir gegenüber wahrnehme.
Haben diese Erfahrungen auch einen Einfluss darauf, wie du Entscheidungen triffst?
Ich erinnere mich daran, wie sich meine beste Freundin vor ein paar Jahren mal gegen einen Ausbildungsplatz entschieden hat, weil dieser ihr in einer Region angeboten wurde, in der sie sich als schwarze Frau nicht sicher genug gefühlt hat. Ich kenne einen schwarzen Mann, der zu keiner Wohnungsbesichtigung persönlich hingegan-gen ist, weil er aus Erfahrung wusste, dass er sonst kaum Chancen hat, eine Wohnung zu bekommen. Stattdessen hat seine Partnerin sich bei den Eigentümern vorgestellt. Das sind nur zwei Beispiele dafür, wie Rassismus im Alltag einschränkt und deshalb auch regelmäßig größere und kleinere Entscheidungen beeinflusst.
Im öffentlichen Diskurs ist klar: Niemand möchte rassistisch sein. Was denkst du: Warum hält sich Rassismus trotzdem in den Köpfen und Strukturen unserer Gesellschaft?
Ich sage immer: Rassismus ist wie ein unsichtbares Gespenst, das in unserer Gesellschaft herumspukt, ohne dass die Mehrheit es merkt. Wenn Betroffene darauf aufmerksam machen, werde sie oft belächelt, nicht ernst genommen oder es wird Mitgefühl bekundet, ohne aber das Gespenst aufzusuchen, um es zu verscheuchen. Rassismus hat sich vor Generationen in unsere Gesellschaft eingeschlichen. Nicht nur in Deutschland, sondern in der gesamten westlichen Welt. Das Forschen zur Existenz von Menschenrassen und deren hierarchischer Anordnung (weiße Menschen und westliche Kulturen ganz oben stehend) und das Aufstellen von Theorien darüber wurde eine ganze Zeit lang als Naturwissenschaft angesehen. Wir können nicht erwarten, dass sich damals etabliertes Gedankengut und die daraus resultierenden Vorurteile und Verhaltensmuster einfach von allein in Luft auflösen. Auch wenn sich die Zeiten natürlich (Gott sei Dank!) geändert haben: Das Gespenst treibt sein Unwesen, weil wir fast alle unbewusst rassistische Bilder verinnerlicht haben, und zahlreiche Betroffene kriegen das regelmäßig zu spüren.
Hat dein Glaube Auswirkungen darauf, wie du Rassismus begegnest?
Ich glaube, dass ich durch mein Vertrauen auf Jesus mehr Geduld mitbringe, wenn es um das Thema Rassismus geht. Manchmal bin ich sehr sauer, enttäuscht, traurig darüber, was ich oder andere von Rassismus Betroffene erleben, und schnell kann das auch in eine Art Verbitterung kippen. Hier greift Jesus ein, ich kann meine Gefühle an seinen Füßen ablegen und eintauschen gegen Geduld, bedingungslose Nächstenliebe und die Fähigkeit, zu ver-geben. Weil ich weiß, dass ER mich und alle Betroffenen sieht, hört, liebt, ernst nimmt und eines Tages alle Tränen abwischen wird.
Gospel-Songs besingen oft die Hoffnung auf ein paradiesisches Jenseits. Karl Marx kritisierte diese Hoffnung als ein Werkzeug der Privilegierten, um den Status quo beizubehalten. Wie gehst du selbst mit dem christlichen Versprechen von Versöhnung und Erlösung um?
Für mich ist das Versprechen Jesu auf ein Jenseits ohne Leid in erster Linie Hoffnung. Es hilft im Blick auf jegliche Ungerechtigkeiten in dieser Welt (nicht nur Rassismus), durchzuhalten. Aber nicht passiv Däumchen drehend durchzuhalten, sondern anpackend, mithelfend, im Wissen und freudigen Erwarten, dass die endgültige Erlösung von Leid und Schmerz noch vor uns liegt. Klar kann man immer wieder Ausreden finden, aber ganz grundsätzlich: Was uns motivieren sollte, uns gegen Ungerechtigkeiten einzusetzen, ist doch unsere Liebe zu den Betroffenen, oder? Am Ende des Tages geht es hier um Liebe. Um Liebe zu unseren Nächsten. Liebe zu unseren von Rassismus betroffenen Nächsten. Was 2020 nach der in den sozialen Medien per Video viral gegangenen Ermordung des Afroamerikaners George Floyd so viele Menschen auf die Straße getrieben hat, war nicht nur Entsetzen und Schock. Es war vor allem Mitgefühl. Wer sollte mit den Betroffenen von Rassismus mitfühlen und sich für sie einsetzen, wenn nicht wir, die wir die Liebe höchst-persönlich als Vater haben?
Welchen Beitrag wünschst du dir von der christlichen Community im Kampf gegen Rassismus?
Ich wünsche mir in erster Linie, dass Christinnen und Christen Rassismus als ein existierendes Problem wahr-nehmen. Das reicht mir schon. Dass wir als Gemeinde Gottes lernen, mit den Weinenden zu weinen, auch wenn es uns selbst nicht betrifft und auch, wenn das Problem für uns selbst sogar unsichtbar scheint. „Die Liebe glaubt alles“, steht in der Bibel. Deshalb lasst uns von Rassismus Betroffenen zuhören und ihnen Glauben schenken, wenn sie von ihren Erfahrungen berichten. Der nächste Schritt ist dann, sich beispielsweise durch Bücher, YouTube etc. darüber aufzuklären, wie Alltagsrassismus aussieht, um ihn bei sich selbst und bei an-deren aufzuspüren und letztendlich zu dekonstruieren. Niemand verlangt, dass Christinnen und Christen mit erhobenen Fäusten bei „Black Lives Matter“-Demos mitlaufen. Bitte nehmt uns und unsere Klagen einfach ernst.